Sicherlich gab es im 17. Jahrhundert noch keine US-amerikanischen Predator-Drohnen, deren zivile Opfer mit dafür sorgen, dass aus ursprünglich wenigen Tausend Dschihadisten nach gut 10 Jahren Hundert Tausend geworden sind. Nun dreht sich im Grunde alles darum, etwas Böses zu vernichten. Niemand im Westen, der mit Geld, Waffen und Logistik die islamistischen Rebellen unterstützt, will aber die Verantwortung tragen, etwas Besseres zu schaffen. Es sieht so aus, als hätte man die Zerstrittenheit unter den Moslems ausgenutzt, um die verschiedenen Glaubensgruppen gegeneinander aufzuhetzen und in den Krieg ziehen zu lassen.
Die bekannten Terrorgruppen, welche allesamt eine wahhabitische, d.h. extrem dogmatische, Auslegung des Islam propagieren, hegen kein wirkliches Interesse dafür, ob ihr Glaube wahr ist. Sie haben aber ein Interesse an Rache und Macht - das erinnert mich zumindest an den 30-jährigen Krieg. Der heutige Konflikt ist ein Religionskrieg. Und weil Religionskriege sich nicht gewinnen lassen, sondern nur zunehmende Zerstörung anrichten, hat man den ersten 30-jährigen Krieg nach 30 Jahren beendet. Sie lassen sich nicht gewinnen, weil der Ansatz, eine Religion auszurotten, in dem man ihre Anhänger tötet, inkompetent ist. Welcher Glaube wurde jemals besiegt, in dem man seine Anhänger besiegt hat? Auch wenn die Anhänger sterben, lebt der Glaube doch weiter.
Im Mittelalter begründete der Islam, im Gegensatz zu heute, eine durchaus weltoffene Kultur mit einem hohen Interesse an Wissenschaft und Meinungsfreiheit, vor allem im Andalusien des "Goldenen Zeitalters". Das damalige Kaliphat umfasste große Teile der Mittelmeerregion. Erst im Zuge der Machtergreifung der Almoraviden 1090 und der gewaltsamen Vertreibung der Mauren aus Spanien, welche im 15. Jahrhundert endete, gewannen dogmatische Einflüsse und gewaltbereite Ideologen die Oberhand. Muhammad ibn Saud schloss 1744 ein Bündnis mit Muhammad ibn Abd al-Wahhab, dem Begründer des Wahhabismus. Al-Wahhab versprach, bei der religiösen Legitimierung Sauds zu helfen, wenn dieser den Wahhabismus als den "wahren" Islam durchsetzt. Bis heute besteht diese Verbindung der wahhabitischen Interpretation des Koran und anderer Aussprüche des Propheten mit den Machtinteressen der Saud-Familie. Heute sagt man: "Bashar al Assad ist kein wirklicher Moslem. Wir wollen ihn rauswerfen und in Syrien aber auch in Italien, Deutschland, ... eine islamische Gesellschaft errichten".
Die radikal-einseitige Interpretation geht sowohl bei den politischen Anstiftern als auch bei den sog. "heiligen Kriegern" soweit, dass aus heiligen Büchern herausgegriffene Verse schlicht benutzt werden, um jede Form des Machtanspruchs zu rechtfertigen. Und natürlich kann man "Gottes Willen" und alles, was man nicht sehen kann, besonders gut für die persönlichen Ziele verwenden.
Der IS hat den Glaubenskrieg nun auf eine neue totalitäre Ebene gehoben. Nach dem, was man heute weiß, lassen sich bei den Mitgliedern des IS für ihre grausamen menschenverachtenden Taten zwei große Gruppen von Motivationen ausmachen. Der größte Teil der Dschihaddisten besteht aus in ihrer Heimat benachteiligten und ausgegrenzten jungen Männern. Der Terrorismusforscher Dr. Scott Atran wies darauf hin, dass der IS bei der Rekrutierung eines einzelnen Kämpfers sehr viel Zeit investiert, um vor allem auf die Enttäuschungen in deren Leben einzugehen. Der IS ist eine revolutionäre Bewegung und spricht seine Änhänger an, weil er eine "neue Gesellschaft" errichten will. Sie ist durchaus vergleichbar mit den Französischen, Bolschewistischen oder Nationalsozialistischen Revolutionen. Der Terrorismusexperte Dr. Guido Steinberg sagt, dass bei den IS-Kämpfern nicht nur der Wunsch besteht, zu kämpfen, Abenteuer zu erleben und Geborgenheit in einer verschworenen Gemeinschaft zu erfahren, sondern oft auch Gewaltfantasien auszuleben. Laut der islamischen Religionspädagogin Lamya Kaddor schlagen die Frustrationserfahrungen, z.B. das Gefühl, nicht dazuzugehören, nichts wert zu sein, in Allmachtsfantasien um. Die Religion ist dabei ein Mittel zum Zweck: um es für sich legitimieren zu können, das Gefühl der Machtlosigkeit auf die Art loszuwerden, in dem man jede erdenkliche Grausamkeit begeht.
Dem Journalisten Bruno Schirra zufolge besteht eine andere Gruppe aus eher privilegierten Jugendlichen von hoher Intelligenz und Bildung. Diese sind anscheinend von der westlichen Gesellschaft mit ihren vorgefertigten Lebensentwürfen und abhandengekommenen Werten angeödet und schlicht gelangweilt. In Ermanglung von Nächstenliebe oder einer prosozialen Lebenseinstellung (ähnlich Psychopathen) besteht ihre Motivation im Grunde in der Zerstörung der Gesellschaft, um ihrem Leben wenigstens irgendeine Bedeutung zu geben.
Aus dem Gesagten muss man leider folgern, dass der neuartige islamistische Terrorismus des IS sich letztlich nicht militärisch "ausrotten" lässt. Denn: es handelt sich um eine revolutionäre Bewegung, die nicht auf den Nahen Osten, und auch nicht nur auf den Kampf gegen Shiiten oder andere Religionsgruppen beschränkt ist. Sondern, der Plan des IS ist, überall dort Fuß zu fassen, wo Instabilität und Chaos herrscht. Die Bewegung richtet sich auch gegen unsere moderne Gesellschaft, die z.B. jene, welche sich nicht in eine seelenlose Maschinerie einfügen wollen oder dem Konkurrenzdruck nicht gewachsen sind, menschlich betrachtet, "hinten runterfallen lässt". In der es auch normal ist, dass eine korrupte Elite in Reichtum lebt, der Rest jedoch immer weniger Chancen hat. Aus dieser Enge, die sich in unserer Gesellschaft breitmacht, bietet der IS einen scheinbaren Ausweg. Deswegen meine ich, dass wir weiter gegen Bewegungen wie den IS anfällig sein werden, wenn wir nicht mit unserem ganzen Schiff, auf dem wir fahren, "das Ruder herumreißen". Ein Aspekt dabei muss sein, dass wir ein Ziel verfolgen, für das es sich wirklich zu leben lohnt.
Der Westen befindet sich heute in einer verwundbaren Lage, was den meisten nicht bewusst ist. Nachdem im Römischen Reich das Christentum zur Staatsreligion wurde, wurde nicht nur Rom immer schwächer, sondern auch das Christentum. Gegen die Verwässerung des Glaubens trat damals der Islam auf den Plan. Dieser wurde nur deswegen stark, weil das Christentum durch seine innere Zerstrittenheit so schwach wurde. Weil der römische Staat unbedingter Einheit bedurfte, fing man an, Uneinigkeiten unter den Christen auf bürokratischem Wege zu lösen. Man stritt und zerstritt sich seit dem 4. Jh. in Fragen, welche die vom heiligen Geist erfüllten Urchristen sich entweder gar nicht stellten oder zumindest nicht definitiv beantworteten. Die daraus entstandenen Kirchen bekämpften sich gegenseitig in einer Weise, dass sie kaum noch als christlich erkennbar waren. Die Schwäche des späteren Christentums war also nicht nur wirtschaftlich-militärisch, sondern lag zu aller erst in dessen Verkopftheit und schwindender Spiritualität.
Eine verstörende Eigenart der Islamisten ist, dass sie sowohl Krieg gegen andere Religionen wie auch gegen Moslems führen, die nicht an den angeblich "wahren Islam" glauben. Ihnen ist auch gemein, dass sie die heiligen Schriften des Islam für ihre persönlichen Motive benutzen. Muss vielleicht der Islam sich erst reformieren und zu "seinen Ursprüngen" zurückkehren - ähnlich wie bei der Reformation des Christentums? Ich fürchte, dies wird kaum möglich sein - denn der Islam beruht ja auf einer Abwandlung, einer Verfremdung oder Neuinterpretation des Jüdisch-Christlichen Glaubens. Man kann deswegen nicht einfach "zurück zu den Schriften" gehn. Nach meiner persönlichen Einschätzung beeinhaltet der Koran noch wesentlich mehr Schwierigkeiten und scheinbar unüberwindliche Widersprüche als die Bibel. Diese Schwierigkeiten führen zu verschiedenen Lehrmeinungen, und jene führen zu verschiedenen Glaubensrichtungen - im Christentum wie im Islam und wahrscheinlich jeder anderen Religion. Solche Spaltungen kennt die Menschheit seit dem Turmbau zu Babel, wo als Ausdruck ihrer Vermessenheit jeder Mensch am Ende seine eigene Sprache sprach. Und sie sollten eigentlich mit der Gründung der christlichen Gemeinde zu Pfingsten überwunden sein, als Menschen aus aller Herren Länder und Sprachen sich - trotz ihrer Unterschiede - wieder verstehen konnten!
Was der Islam heute dringend benötigt, ist etwas wie ein Westfälischer Friede! Die Bereitschaft, sich in die Lage des Anderen zu versetzen, statt immer nur die Verbrechen der anderen Partei aufzuzählen.